Fundamentalismus - CReality

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Fundamentalismus

Religion


Für einen verstärkten Dialog zwischen den Religionen und dem säkularen Staat und für wirkliche Ernstnahme demokratischer Anliegen

Analyse


Die Fundamentalismus-Forschung der letzten 20 Jahre hat gezeigt, dass es nicht
„fundamentalistische Religionen“ und „nicht fundamentalistische Religionen“ gibt, sondern dass fundamentalistische Tendenzen und Menschen in allen Religionen vorkommen – je nach politischem, sozialem und wirtschaftlichem Umfeld. Der Begriff „Fundamentalismus“ ist nicht sehr glücklich gewählt: Streng genommen drückt der Begriff nichts anderes aus, als das Bestreben, sich stärker an den zentralen, „fundamentalen“ Glaubensinhalten zu orientieren, also zu den „Fundamenten“ eines religiösen Glaubens zurückzukehren. Der Begriff "Fundamentalismus" wird jedoch heute praktisch überall als Negativbezeichnung verwendet.

Auch in den islamischen Ländern wurde der Fundamentalismusbegriff diskutiert, unter anderem im Iran. Die schiitische Zeitschrift Al-Qiyam (Der Aufbruch) vertrat dabei die Meinung, dass die Muslime stolz auf die Bezeichnung "Fundamentalisten" sein sollten, weil er darauf hinweise, dass ihre Religion auf einem "felsenfesten Fundament" stehe (Kathpress Info-Dienst vom 9.2. 1990). Im Allgemeinen können Muslime mit dem Begriff „Fundamentalismus“ wenig anfangen.

These 1: Fundamentalist/inn/en vertreten und propagieren ein bestimmtes Weltbild - oder Teile daraus - mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Menschen mit anderen Meinungen.

Fundamentalistische Verhaltensweisen stellen in der Regel einen wenn auch letztlich erfolglosen - weil immer abwehrenden und damit gewaltsamen - Versuch rückwärts gerichteter Rebellion gegen soziale Entfremdung, ethnisch-kulturelle Entwurzelung, weltanschauliche Heimatlosigkeit und gesellschaftlichen Wertewandel der Moderne und der Postmoderne dar. Kriterium ist dabei nicht der der konservative oder rückwärtsgerichtete Inhalt – sonst wäre jede konservative Strömung „fundamentalistisch“ - sondern die gewaltsame Form seiner Durchsetzung entscheidend (vgl. Jäggi/Krieger 1991).

Inhalt und gleichzeitig Transmissionsriemen fundamentalistischer Bewegungen können religiöse oder quasi-religiöse Weltbilder, Ideen und Vorstellungen sein. Quasi-religiös sind Weltanschauungen, die ohne ausdrücklich religiösen Anspruch (Transzendenzhypothese, Vermittlung oder mindestens Zulassung von spirituellen Erfahrungen) Werte und Verhaltensnormen vermitteln und durchzusetzen versuchen (Ethik, Sinngebung). Zu den Quasi-Religionen gehört auch der Säkularismus. Fundamentalistisch werden Religionen und Quasi-Religionen dann, wenn sie zu Ideologien kristallisieren und damit Ausschliesslichkeit oder sogar Absolutheitscharakter beanspruchen – und diesen mit Gewalt durchzusetzen versuchen.

Fundamentalismus ist nicht einfach ein „Aufstand gegen die Moderne“ (vgl. Meyer 1989), sondern viel eher ein Aufbegehren gegen die nicht eingehaltenen Versprechungen der Moderne (Freiheit, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit), aber auch gegen die weltanschauliche Heimatlosigkeit des Säkularismus.

These 2: Fundamentalistische Bewegungen sind zumeist Reaktionen auf politische Ungerechtigkeit, soziale Entfremdung, wirtschaftliche Not, ethnisch-kulturelle Entwurzelung, weltanschauliche Heimatlosigkeit und gesellschaftlichen Wertewandel oder Wertepluralismus.

These 3: Wie andere soziale Bewegungen zielen auch fundamentalistische Bewegungen darauf ab (oder geben vor), die Lebenssituation in irgendeiner Art benachteiligter Menschen (oder Lebewesen) zu verbessern.

Fundamentalistische Erfahrungen und Gruppen gewähren eine Art "sozialen Schonraum", scheinbar zeitlos, abgehoben von aktuellen Spannungen, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und sozialen Konflikten. Gleichzeitig erheben fundamentalistische Bewegungen den Anspruch, nicht eingelöste Versprechungen des westlich-abendländischen Denkens und der Moderne zumindest teilweise zu erfüllen. Dazu vermitteln sie nicht selten Fragmente von "Kulturtechniken der westlichen Welt ..., die in vielen Fällen Aspirationen nach sozialem Aufstieg und den Wunsch nach einer Integration in die nationale Gesellschaft realisieren helfen" (Rohr 1993:31). So sind etwa islamisch-fundamentalistische Bewegungen im Nahen Osten dafür bekannt - so etwa die Hamas in Gazah -, gezielte und sehr erfolgreiche Sozialarbeit zugunsten der Ärmsten zu leisten. Gleichzeitig bedienen sie sich nicht selten modernster technischer Mittel, wie zum Beispiel Video-Clips mit fundamentalistischen Freitags-Predigten auf YouTube oder revolutionären Aufrufen auf Websites. Praktisch immer gehen diese Bemühungen aber mit gewaltsamen Aktionen, Terrorismus oder Einschüchterungen von Gläubigen und Nicht-Gläubigen einher, wie etwa die Praxis des Front Islamique de Salut in Algerien vor dem Staatsstreich oder salafistischer Gruppen in Nordafrika oder im Kaukasus zeigte.

These 4: Fundamentalistische Bewegungen versuchen, auf gewaltsame Weise gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Macht zu erringen oder zu bewahren. Dabei ist die Frage, ob mehr oder weniger Gewalt angewendet wird, nicht so sehr eine Frage von mehr oder weniger Fundamentalismus, sondern vielmehr eine Frage der herrschenden politischen Kultur. Entscheidend ist die Bereitschaft, gegebenenfalls Gewalt auszuüben und die Integrität der Betroffenen zu verletzen.

Wenn Anhänger des Al-Kaida-Netzwerks Bombenattentate durchführen, ist das genauso fundamentalistisch, wie wenn Anhänger der New Christian Right in Amerikas Abtreibungskliniken Bomben legen oder Bibliothekare und Gemeindevorsteher durch telefonische Drohungen zwingen wollen, evolutionistische Literatur aus den Gemeindebibliotheken zu entfernen. Aber auch George W. Bush war nicht weniger fundamentalistisch, als er in seiner Kriegsrhetorik nach dem 11. September 2001 von „revenge“ (Rache) und „erase states“ (Staaten auslöschen) sprach – und auch entsprechende militärische Schritte einleitete.

These 5: Fundamentalistische Bewegungen schaffen Identität durch Abschliessung und Abwehr gegen andere Weltanschauungen. Durch Gruppenzwang und soziale Kontrolle reduzieren oder zerstören sie die individuelle Entscheidungsfreiheit und Autonomie sowohl nach innen (eigene Mitglieder), als auch nach aussen (Gewalt gegen anders Denkende). Oft richtet sich ihre Gewalt gegen ganze Gruppen oder bestimmte Lebensbereiche (Unterdrückung der Frauen, Sexualitätsfeindlichkeit, Gewalt gegen "Ungläubige" oder Menschen anderer Überzeugung).

These 6: Fundamentalist/inn/en vertreten häufig Inhalte, die weniger "authentisch" der "wortgetreu" sind, als "traditionelle" Glaubensinhalte und Weltanschauungen. Oft bestehen die Überzeugungen fundamentalistischer Menschen aus Fragmenten und Bruchstücken, die nicht älter als 100 oder 200 Jahre alt sind.

Wie etwa Barr (1981) für christliche Evangelikale nachgewiesen hat, benutzen, propagieren und vertreten integristische und oft auch fundamentalistische Bewegungen als „authentisch“ ausgegebene Inhalte, Vorstellungen und Verhaltensweisen, die meist nicht älter als 100 oder 150 Jahre sind. Die kritisch-historische Theologie bemüht sich immer wieder, nicht nur den (Schrift-)Text, sondern auch den „Vortext“ der Schrift (also das gesellschaftliche Umfeld ihres Entstehens), und den „Nachtext“ (ihre Wirkungsgeschichte über die Jahrhunderte hinweg) in ihr Religions- und Glaubensverständnis einzubeziehen. Damit ist die kritisch-historische Theologie in Bezug auf ihre Glaubensinhalte wesentlich „authentischer“ als integristische und fundamentalistische Glaubensverständnisse, die meist unreflektiert in die Gegenwart projiziert werden. Oder wie es der schiitische Muslim, Seyyed Hosein Nasr, einmal mit Blick auf den Islam formuliert hat: Der „geistige“ Koran – also die Intention und der Sinnzusammenhang der Religionsgründer – steht über dem „geschriebenen“ Koran.


Lösungsansätze

These 7: Fundamentalistische Einstellungen und Verhaltensweisen gibt es bei Menschen aller Religionen, Weltanschauungen und Grundhaltungen

Das bedeutet, dass es weniger um religiöse Inhalte geht, sondern um ein dialogisches Kommunikationsverhalten, unabhängig davon, welcher Weltanschauung oder Religion jemand angehört.

These 8: Daraus folgt, dass auch Angehörige religiöser, aber auch areligiöser oder atheistischer Weltbilder fundamentalistisch handeln können. Es gibt fundamentalistische Christ/inn/en, Muslime, Hindus und Buddhist/inn/en, aber auch fundamentalistische Nationalist/inn/en, Liberale, Humanist/inn/en, Grüne und Feministinnen

Aus dem oben Gesagten sollte klar geworden sein, dass alle religiösen, aber auch säkularen weltanschaulichen Inhalte unter bestimmten Bedingungen fundamentalistisch werden können. Konsistente Weltbilder, die als hundertprozentig widerspruchsfrei postuliert und mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzt werden sollen, gehorchen weitgehend gleichen Gesetzen, unabhängig davon, ob sie religiöse oder areligiöse Inhalte transportieren. Der transportierte Inhalt ist zweitrangig – und die Inhalte können oft sehr schnell ausgetauscht werden. So war etwa die in den 1970er Jahren die Janata Vimukti Peramuna-Partei (JVP) in Sri Lanka marxistisch-guevaristisch ausgerichtet, in den 1980er Jahren vertrat sie singhalesisch-buddhistische Ziele, mit den gleichen Namen und unter den gleichen Führungspersonen. Und in beiden Phasen verübte sie gewalttätige Aktionen und Terrorismus, nämlich Bombenattentate, bewaffnete Überfälle usw. Oder wie mir gegenüber ein in den 1980er Jahren islamistisch-fundamentalistischer Aktivist in Frankreich sagte, der fünfzehn Jahre früher eine marxistisch-gauchistische Position vertreten hatte: „C'est le même combat“ (das ist der gleiche Kampf).

Das bedeutet, dass die beste Strategie gegen Fundamentalismus einerseits glaubhafte und identitätsstiftende Inhalte, Werte und Normen sind, und auf der anderen Seite das stetige kritische Überdenken der eigenen Überzeugung im Austausch mit Menschen anderer Weltanschauungen. Oder theologischer formuliert: Die Vermittlung spirituell-religiöser oder weltanschaulicher Erfahrungen und Zugänge auf der einen Seite und stetige selbstkritische Diskussion, Gespräch und Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen oder Glaubensvorstellungen auf der anderen Seite.

These 9: Fundamentalismus ist letztlich nicht ein religiöses Phänomen, sondern eine Identitätsproblematik und eine Wahrnehmungs- und Kommunikationsstörung

Fundamentalistische Gruppen bedienen sich religiöser – oder nationalistischer, rassistischer und anderer - Inhalte als ideologische Versatzstücke, um ihre spezifischen Machtinteressen durchzusetzen oder zu verteidigen. Zentraler als die Frage nach den Inhalten (religiös oder nicht) ist die Frage nach der sozialen Dynamik, der politischen Situation und – vor allem – der Haltung zum bewaffneten Kampf und zum Terrorismus.

Darum liegt die Antwort insbesondere auf religiösen Fundamentalismus nicht in der Ablehnung von Religion, sondern in einem vertieften Verständnis der eigenen und auch der fremden Traditionen.


Angeführte Literatur
Barr, James
1981: Fundamentalismus. München: Chr. Kaiser.
Jäggi, Christian J. / Krieger, David J.
1991: Fundamentalismus – ein Phänomen der Gegenwart. Zürich: Orell Füssli.
Kathpress Info-Dienst
9.2.1990: Iran: Fundamentalismusbegriff wird diskutiert. Schiitische Monatszeitschrift verweist auf die "nachkonziliare Kirche".
Meyer, Thomas
1989: Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.
Rohr, Elisabeth
1993: Fundamentalismus: Eine Utopie der Entrechteten? In: Peripherie 50/1993.

Weiterführende Texte
Jäggi, Christian J.
2013: Fundamentalismus. LE T 77. 30 Seiten. Meggen: Inter-Active.
Bezugsadresse: creality@bluewin.ch.


   

 
 
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