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Islam


Analyse

Das islamische Gesetz – die Shari'a – zeigt den Muslimen auf, wie sie ein Gott gefälliges Leben führen können.

Nach Meinung von Abdullahi Ahmed An-Na'im (2008:290) sollte die Shari'a als „Quelle der Befreiung und Selbstverwirklichung erkannt und erfahren werden, nicht als schwere Bürde, als drückende Einschränkung oder als harte Bestrafung“. An-Na'im betont weiter, dass die Shari'a vollkommen freiwillig befolgt werden müsse, und dass keinerlei religiöse Verdienste in einem erzwungenen Einverständnis mit dem Gesetz bestehen. Erst die Trennung von Staat und Religion könne die Shari'a vor der Manipulation und Instrumentalisierung durch die regierenden Eliten schützen.

Deshalb sind verkürzte Interpretationen des islamischen Gesetzes – wie z.B. in Pakistans religiösen Gerichten oder in der islamistischen Gerichtsbarkeit in Somalia – in einem doppelten Sinn problematisch: Zum Einen setzen sie die islamischen Moralvorstellungen, wie sie sich in der Shari'a im Laufe der Zeit entwickelt haben, in eine brutale und teilweise menschenrechtswidrige Gerichtsbarkeit um, welche den zentralen Anliegen des Islam – nämlich Frieden, Versöhnung, Glauben an den einen, unteilbaren, liebenden und verzeihenden Gott sowie den Verzicht auf Zwang im Glauben – diametral entgegensteht.

Zum anderen wird ein Scheingegensatz zu den im Westen entstandenen Menschenrechten aufgebaut – obwohl die Menschenrechte von der Intention her durchaus mit den Zielen des Islam zu vereinbaren sind, wenn auch einzelne Aspekte der Menschenrechte und der islamischen Gesetzesvorstellungen nicht übereinstimmen. Muslimische Gelehrte haben sehr wohl die Bedeutung der Menschenrechte erkannt – und auch die Notwendigkeit, sie mit den islamischen Glaubensvorstellungen in Übereinklang zu bringen. Allein zwischen 1981 und 1991 gab es fünf gewichtige Versuche, die Menschenrechte an die islamischen Glaubensvorstellungen anzupassen.
Obwohl diese Versuche, eine islamische Menschenrechtserklärung zu verfassen, wesentliche Grundanliegen - z.B. die körperliche Unversehrtheit - im Sinne der Shari'a einschränken und sie so, wie sie vorliegen, für westliche Menschenrechtsvertreter kaum akzeptabel sind, stellen sie einen wichtigen Beitrag dar, weil sie den Diskurs über Menschenrechte und Demokratie im Islam vorantreiben.

Auf Seiten der westlich-abendländischen Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten muss eine kritische Diskussion darüber anlaufen, was zum unaufgebbaren Kern der Menschenrechte gehört und welche Formulierungen anders gefasst werden können. Allerdings gibt es bereits eine wichtige Grundposition in dieser Diskussion, über die nicht zurück gegangen werden kann: Die Menschenrechte sind vor allem anderen als Schutz des einzelnen Individuums vor staatlichen Überriffen, aber auch vor anderen Übergriffen – zum Beispiel durch Religionen oder andere weltanschauliche Gemeinschaften – auf das Individuum gedacht. So ist Religionsfreiheit nicht einfach als kollektives Recht von Religionsgemeinschaften zu verstehen oder gar als ein Verbot auf Kritik von Religionen anzusehen, wie das muslimische Regierunen im Menschenrechtsrat beantragt haben. Vielmehr heisst Religionsfreiheit, dass jeder Mensch das Recht hat, seinen Glauben selbst zu wählen - und bei Bedarf auch wieder zu verlassen.

Auf der anderen Seite sind Frieden, soziale Gerechtigkeit und die Neuverteilung der globalen Ressourcen ein wesentliches Anliegen aller Religionen. Dazu braucht es einen weltweiten Diskurs. Zwischenreligiöse Versöhnung und Religionsfrieden als Teil des Weltfriedens setzen voraus, dass Schuld eingestanden und verziehen wird, und zwar von allen beteiligten Religionen. Nicht eine Verschmelzung der Religionen, sondern engagierte Zusammenarbeit und aktive Mitverantwortung aller Religionen steht auf der Tagesordnung unseres Planeten.

Im Unterschied zu Benedict Andersons „Nation“ als „imagined community“ - also einer „vorgestellten Gemeinschaft“ - (vgl Asad 2003:2) ist ummah im ursprünglichen theologischen Sinn ein Ort, wo Muslime die Prinzipien der Religion („usul du-din“) in der Welt praktizieren können. Ummah, also die Gemeinschaft der Gläubigen, ist sozusagen der Rahmen, in welchem der Muslim oder die Muslima göttliche Inspiration findet und als Botschafter Gottes eine exemplarische Lebensform und richtiges, gottgewolltes Verhalten lebt (vgl. Asad 2003:197). Der Unterschied zwischen den beiden Denkweisen besteht somit darin, dass das westliche Denken einen über den Religionen stehenden Staat postuliert, dessen Souveränität sich aus den Willen seiner Angehörigen ergibt und in dem die Religion Privatsache des einzelnen Menschen darstellt. Dagegen kennt der Islam keine Trennung zwischen Religion und Staat – der Staat gewinnt seine Legitimität aus dem Willen Gottes und den durch Muhammad geoffenbarten Gesetze. Im Säkularismus steht somit der Staat über der Religion – im Islam haben sich dagegen staatliche und politische Anliegen der Religion zu unterordnen.

Darauf basiert das Konzept des Dschihad. „Dschihad“ bedeutet nicht – wie oft falsch übersetzt – „heiliger Krieg“. Wörtlich heisst Dshihad „Anstrengung“. Muslime unterscheiden – in Berufung auf Mohammed - den grossen und den kleinen Dschihad. Der „grosse Dschihad“ bedeutet nichts anderes als sich täglich bemühen, oder anstrengen, für Gott. „Es ist die Anstrengung, mit aller Kraft und Leidenschaft den wahren Glauben auszubreiten: mit der Kraft eines gläubigen Lebens, mit der Kraft des Geistes, mit der Kraft der Wirtschaft …“ (Lohfink 2009:102). Demgegenüber meint der „kleine Dschihad“ die Verteidigung der muslimischen Gemeinschaft notfalls auch mit der Waffe in der Hand, also auch mit kriegerischen Mitteln. Der grosse Dschihad richtet sich gegen die eigenen Schwächen, ist also ein Kampf um Bekehrung und Askese (Lohfink 2009:102). Der kleine Dschihad meint den Kampf gegen die Ungläubigen. In der Sure 2,216 wird zum Kampf gegen die Ungläubigen aufgerufen: „Euch ist vorgeschrieben, zu kämpfen (quital), obwohl es euch zuwider ist“. Zwar wird auch für „quital“ - also sowohl im Angriffskrieg als auch im Verteidigungskrieg – korrekte Kriegsführung gefordert: „Und kämpft auf dem Wege Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen. Aber begeht keine Übertretung ('idwan). Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen. Und tötet sie, wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! … und kämpft (qital) gegen sie, bis niemand (mehr) versucht, (Gläubige zum Abfall vom Islam) zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird“ (Sure 2,190ff). In der Geschichte wurde jeweils dann zum kleinen Dschihad aufgerufen, wenn die muslimische Gemeinschaft der Gläubigen von Aussen angegriffen wurde. Das war zum Beispiel während der Kreuzzüge der Fall, als die christlichen Kreuzfahrer zu einer echten militärischen Gefahr für eine Reihe muslimischer Städte wurden.


Lösungsansätze

Angesichts der zunehmend plurikulturell zusammengesetzten Gesellschaften Westeuropas steht heute zweifellos der Interreligiöse Dialog – und besonders der Dialog zwischen Muslimen und Christen - ganz oben auf der Prioritätenliste. In Anbetracht der wachsenden Zahl von Muslimen in den meisten Ländern Europas und angesichts der zunehmenden Brisanz religionistischer und kulturkämpferischer Auseinandersetzungen um religiöse Symbole (Nikab/Burka, Minarette usw.) ist heute die Verbesserung des gegenseitige Verständnisses zwischen den Gläubigen der verschiedenen Religionen und ihres gegenseitigen Verhältnisses von entscheidender Bedeutung. Insbesondere aus staatspolitischen Überlegungen besteht ein grosses Interesse, nichtchristliche und damit auch muslimische Minderheiten in die Gesellschaft zu integrieren.

Erstaunlicherweise haben aber bis jetzt weder die grossen christlichen Kirchen noch staatliche Stellen feststellbare Schritte in diese Richtung unternommen. Bemühungen um interreligiösen Dialog liegen weiterhin bei einigen wenigen, eher marginalen interreligiösen Vereinen und Gemeinschaften. Diese Situation ist angesichts der religionistischen Polarisierung in vielen Ländern Europas grotesk.

Die Gründe für diese Absenz des Staates und der christlichen Kirchen im interreligiösen Dialog sind unterschiedlich und vielfältig: Während sich der Staat in den letzten 30 Jahren immer mehr aus religionsspezifischen Fragen zurückgezogen hat (Trennung von Kirchen und Staat) und das interreligiöse Anliegen als Angelegenheit der religiösen Gruppierungen betrachtet, haben die grossen christlichen Religionsgemeinschaften wenig Interesse, sich mit der neuen religiösen Konkurrenz auseinander zu setzen. Aber auch von Seiten der neu präsenten Religionen – z.B. der islamischen Gemeinschaften – besteht oft wenig Interesse an einem interreligiösen Dialog: Sei es, weil sie mit ganz anderen Fragen konfrontiert sind (Infrastruktur, Organisation ihrer Mitglieder oder Gläubigen, finanzielle Schwierigkeiten, mangelnde Kenntnis der Kultur des Einwanderungslandes, aber auch Schwierigkeiten, ihre Gläubigen anzusprechen und fehlende soziale Kontrolle über deren religiöse Praxis), sei es, weil sie sich eher missionarisch als dialogisch verstehen. Angesichts der bestehenden Probleme, der gegenseitigen Missverständnisse und Vorurteile liegt es aber ganz klar im Interesse aller beteiligten Parteien – also des Staates, der Mehrheitsreligionen, der neuen Minderheitsreligionen -, schrittweise ein Verhältnis des gegenseitigen Verständnisses und des Dialogs aufzubauen.

Den staatlichen Stellen kann es nicht gleichgültig sein, ob unter dem Sigel der religiösen Zugehörigkeit gewaltbereite Gruppen entstehen und Ghettoisierungstendenzen zunehmen, wodurch die gesamtgesellschaftliche Integration unterminiert und letztlich der staatspolitische Konsens in Frage gestellt werden kann. Die Kirchen stehen auf verschiedenen Ebenen vor einer grossen Herausforderung: Menschen mit einem anderen kulturellen und religiösen Hintergrund leben in der Schweiz und werden da auf unabsehbare Zeit bleiben. Im Alltagsleben stellen sich Fragen nach der theologischen und seelsorgerischen Grundhaltung zu diesen Menschen. Die zunehmende Zahl von christlich-muslimischen Ehen und Partnerschaften lassen neue Fragen hinsichtlich des christlichen Verständnisses interreligiöser Ehen entstehen, es stellt sich – gerade im Fall des Islam – das Problem der religiösen Zugehörigkeit und Erziehung der Kinder. Daneben besteht seit einiger Zeit auch zunehmend das Problem der Konversionen christlicher oder sogar konfessionsloser Menschen zu anderen Religionen, namentlich auch zum Islam – nicht selten verbunden mit einer religiösen Radikalisierung. Für die muslimischen Gemeinden ist es unumgänglich, sich gegenüber der Einwanderungsgesellschaft und den christlichen Kirchen zu definieren und zu positionieren. Sie stehen vor der Notwendigkeit, nicht nur mit anderen religiösen Vorstellungen umzugehen, sondern oft auch mit anderen nationalen und kulturellen Lebensformen: nämlich dann, wenn die Mehrheit oder ein grosser Teil ihrer Mitglieder aus einem anderen Land stammen – was heute praktisch überall der Fall ist.

Angeführte Literatur
An-Na'im, Abdullahi Ahmed
2008: Islam and the Secular State. Negotiating the Future of Shari'a. Cambridge/Massachusetts / London: Harvard University Press.
Asad, Talal
2003: Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity. Stanford/California: Stanford University Press.
Lohfink, Norbert
2009: Glaube und Gewaltanwendung. Nach den Gründungsdokumenten von Judentum, Christentum, Islam. In: Lutz-Bachmann, Matthias / Niederberger, Andreas (Hrsg.): Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Weiterführende Texte
Bajwa, Yahya H.
2010: Einführung in den Islam. Lerneinheit T74. 38 Seiten. Meggen: Inter-Active. Bezugsadresse: inter-active@bluewin.ch.
Jäggi, Christian J.
2012: Muslime zwischen Gesetz, Staat und Integration. LE I26. 20 Seiten. Meggen: Inter-Active. Bezugsadresse: inter-active@bluewin.ch.
2012: Zum interreligiösen Dialog. LE T76. 17 Seiten. Meggen: Inter-Active. Bezugsadresse: inter-active@bluewin.ch .


  

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