Analyse
In modernen westlichen Gesellschaften scheint es kaum mehr allgemeine Verbindlichkeiten zu geben (vgl. dazu Neue Zürcher Zeitung vom 14. 2. 1995). Gerade heranwachsende Jugendliche erleben eine Welt ohne erkennbare Grenzen - im guten und im schlechten Sinn, alles ist beliebig geworden. Und trotzdem ist diese grenzenlose Welt voller Zwänge: durch den Verkehr zerstörte Spiel-Räume der Kinder, grenzenlose Bedrohung der Umwelt durch Gift, Müll und Zerstörung jeglicher Art, unsinnige Verteilung der gesellschaftliche Arbeit (die einen sind permanent überfordert, die anderen haben keine (Erwerbs-)Arbeit), soziale Ungerechtigkeiten.
Religionen erscheinen in dieser Situation als Identifikationsangebot, als plausible Antwort für die bestehenden gesellschaftlichen Probleme. Und vor diesem Hintergrund erscheinen religiöse Symbole sozusagen als Verdichtung und Sichtbarmachung religiöser Inhalte und persönlicher Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Gruppe. Symbole werden sozusagen religiös aufgeladen, und dienen als Transmissionsriemen komplexer religiöser Sachverhalten.
Chantal Saint-Blancat (2008:108) weist darauf hin, dass seit den 1990er Jahren viele junge europäische Muslime versuchten, öffentliche Anerkennung für ihre europäisch-muslimische Identität zu finden. Für sie, die die Spielregeln europäischer Gesellschaften kannten, ging - und geht - es darum, den öffentlichen Raum zu erobern: Sie versuchten und versuchen dies mit religiösen und politischen Aktionen, aber auch mit symbolischen Handlungen zur Vergrösserung ihrer Sichtbarkeit. Einige versuchten den säkularen Weg, andere wählten ihre muslimische Identität als Hauptbezugspunkt. Nach Meinung von Saint-Blancat (2008:101) stellen sich dabei drei zentrale Fragen: 1. Wie sehen das Recht und der Status der muslimischen Bevölkerung aus, in der lokalen und nationalen Arena als Teil des urbanen Raums sichtbar zu werden? 2. Welche Beitrag dürfen und können die Muslime zum Aufbau und zur Bewahrung lokaler und nationaler Identität des Landes leisten, in welchem Sie leben? Dies insbesondre in einer öffentlichen Wahrnehmung des Islam als „Eindringling“, als „intolerante Religion“ und als „Terrorismus“. 3. In welchem Verhältnis stehen Kontroversen über Moscheen, Minarette und andere Zeichen des Islam im Prozess religiöser und kultureller Pluralisierung im urbanen Raum?
Auch das muslimische Kopftuch hat sich in den westlichen Ländern zu einem Symbol religiöser Zugehörigkeit und zu einem Demonstrationsmittel islamischen Glaubens entwickelt. Dabei ist unerheblich, ob das betreffende Symbol tatsächlich eine religiöse oder sakrale Bedeutung hat oder nicht: Das Kopftuch war ursprünglich nur ein Zeichen und eine sozio-kulturelle Ausformung „sittlichen Verhaltens“ – im Koran steht, Männer und Frauen sollen sich geziemend „bedecken“. Das Minarett besass nie eine sakrale Bedeutung, ebenso wenig wie die christlichen Kirchtürme. Beide signalisierten in ihrem religiösen Kontext lediglich „Hier ist eine Gebetsstätte“.
Einzelne Symbole – zum Beispiel das muslimische Kopftuch – können je nach Situation und sozio-kulturellem Kontext ganz unterschiedlich stark aufgeladen werden, und zwar sowohl von ihren Trägerinnen und Träger, als auch vom – abwehrenden – sozio-kulturellen Umfeld.
Die zunehmende Beliebigkeit religiöser und weltanschaulicher Zugehörigkeiten und Identität führen zu einem Paradox: Während Menschen nach wie vor auf der Suche nach absolutem Sinn sind - es gibt sogar Leute, die meinen, immer mehr Menschen seien auf der Suche nach Sinn - sind die Religionen (und alt- wie neureligiösen Bewegungen) immer weniger in der Lage, dieses Bedürfnis nach Sinn zu befriedigen.
Dadurch entsteht ein nicht zu unterschätzendes Vakuum für irrationale, unkontrollierbare Ideologien, welche - offenbar erfolgreicher als die Kirchen und traditionellen Religionsgemeinschaften - vorgeben, das Verlangen nach (absolutem) Sinn zu befriedigen. Offenbar sind wieder aktuell gewordene Ideologien wie Nationalismus, Rassismus, aber auch religiöser Fundamentalismus und militanter Islamismus daran, heute genau dieses Vakuum zu besetzen.
Doch nicht nur von Seiten der militanter Angehöriger von eingewanderter Religionsgruppen, sondern mehr und mehr auch auf der Seite der einheimischen oder länger ansässigen Bevölkerung kommt es zu einer Radikalisierung: Während eingewanderte religiöse Minderheiten, z.B. Muslime, ihre religiösen Symbole als eine Art Refugium für ihre – wie sie meinen – ethnisch-nationale oder religiöse Identität nutzen, erscheinen die gleichen Symbole als Ausdruck sozio-kultureller oder religiöser „Überfremdung“ und als Zeichen religiöser oder ethnisch-nationaler Bedrohung. Ein gutes Beispiel dafür ist etwa die Minarett-Verbots-Initiative in der Schweiz, die Ende 2009 von mehr als 57% der abstimmenden Bevölkerung angenommen wurde.
Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Tendenzen von Extremisten beider Seiten benutzt werden, um Stimmung zu machen. So rief etwa der libysche Revolutionsführer und Diktator Ghadafi im Februar 2010 zu einem Dschihad, also einem „heiligen Krieg“ gegen die Schweiz als Antwort auf das Minarettsverbot auf. Auf der anderen Seite forderten rechtbürgerliche Politiker in der Schweiz – bis hin zu einzelnen Vertretern der Mitteparteien, z.B. dem Präsidenten der CVP, Christophe Darballay – ein Burkah-Verbot für Muslimas in der Schweiz. Ähnliche Forderungen tauchten in Frankreich und in anderen Ländern Europas auf.
Doch wo liegen die Grenzen zwischen (fremder) Religion und Säkularismus? Um zu zeigen, wie diametral unterschiedlich die Haltung insbesondere in Ländern der Dritten Welt gegenüber dem Säkularismus ist, lassen wir zwei muslimische Autoren sprechen:
Auf der einen Seite stellte der Säkularismus eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft in einem von Religionskriegen zerrissenen Europa dar. Das gilt auch heute für viele Länder. So schreibt etwa Abdullahi Ahmed An-Na'im (2008:1): „Um ein Muslim durch Überzeugung und freie Wahl zu sein – und das ist die einzige Weise, wie man Muslim sein kann – brauche ich den säkularen Staat. Mit säkularem Staat meine ich einen Staat, der neutral ist in Bezug auf religiöse Doktrin… Das meine ich … mit Säkularismus: nämlich einen säkularen Staat der die Möglichkeit religiöser Hingabe und ehrlicher Überzeugung erleichtert“ (An-Na'im 2008:1). Entsprechend folgert An-Na'im (2008:3) gerade aus seiner religiösen Haltung heraus, dass der Staat keine Zwangsmassnahmen einsetzen darf, um religiöse Ansprüche oder Prinzipien durchzusetzen. Folgerichtig lehnt An-Na'im auch ab, die Shari'a, also das islamische Gesetz, durch staatliche Massnahmen durchzusetzen
Demgegenüber kritisiert Talal Asad (2003:1) den Säkularismus als „politische Doktrin, die im modernen Euro-Amerika entstanden ist“. Asad (2003:12) ist der Meinung, dass „Modernität“ oder „Modernismus“ ein politisches Projekt darstellt, in dem der Säkularismus eine zentrale Stellung einnimmt. Asad wirft den Vertretern des Modernismus vor, dass sie sozusagen nach innen viele Gesichter des Modernismus präsentieren, während sie nach aussen eine einzige Sichtweise von Modernismus und Säkularismus zu vertreten suchen. Dieses politische Projekt des Modernismus liefert Technologien, welche neue Erfahrungen von Raum und Zeit ermöglichen, z.B. in der Produktion, in der Wohlfahrt, beim Reisen, in der Unterhaltung und in der Medizin. Der Modernismus setzt auch neue Massstäbe im Guten wie im Schlechten: sei es in der Grausamkeit und Brutalität, sei es in der Gesundheit, sei es in der Waffentechnologie, im Konsum oder in der Bildung. Asad (2003:16) ist davon überzeugt, dass „das Säkulare“, also die neue moderne und postmoderne Gesellschaft, der politischen Doktrin des Säkularismus vor- und übergeordnet ist.
Doch was bedeutet Säkularismus? Rajeev Bhargava (2007:21) definierte Säkularismus als „Trennung organisierter Religion von der politischen Macht, inspiriert durch einen spezifischen Set von Werten“. Mit anderen Worten: Säkularismus ist ohne Trennung von Religion und Staat nicht denkbar, ebenso wenig ist Säkularismus ohne die durch ihn vermittelten Werte zu verstehen. Bhargava (2007:22) weist auch darauf hin, dass Säkularismus mitnichten mit „westlich“ gleichzusetzen ist: „For a rich, complex, and complete understanding of secularism, one must examine how the secular idea has developed over time trans-nationally” (Bhargawa 2007:22). Hier besteht eine Parallele zu den grossen Religionen: So wie der Buddhismus, das Christentum und der Islam Sprach- und Kulturregionen sowie spätere nationalstaatliche Grenzen durchquert und überschritten haben, genauso hat sich die säkulare Weltanschauung in ganz verschiedenen Regionen der Welt verankert. Genau so wie die grossen Religionen, die lokal entstanden sind und sich später ausgebreitet haben, hat auch der Säkularismus ausgehend von Westeuropa längst alle Länder und Kontinente erreicht.
Als zentrale Werte des Säkularismus gelten heute: innergesellschaftlicher Friede und Verhinderung von Barbarei, Schutz der Verletzlichkeit der Individuen, Religionsfreiheit und Anerkennung der Mitwirkung des Einzelnen in Staat und Gesellschaft in Form der Staatsbürgerschaft (vgl. Bhargava 2007:29-31). Eine weitere grosse Errungenschaft des Säkularismus sind die individuellen Menschenrechte, welche die Autonomie des Individuums ins Zentrum stellen.
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